Die wilden Wasser bleiben auch nach einer Dekade wild

Aguas Bravas Nicaragua ABN ist von der gleichnamigen Berliner Organisation Wildwasser inspiriert, und wurde 2007 gegründet, mitfinanziert von der Katholischen Frauenbewegung. Brigitte Hauschild war als Pionierin und Mitbegründerin der nicaraguanischen Frauenorganisation ein weiterer Funke für eine ganze Bewegung, die gegen sexuellen Missbrauch kämpft. Wie das autonome Frauennetzwerk gegen Gewalt. 10 Jahre Jubiläum feiert Aguas Bravas Nicaragua, und ich durfte bei der Feier am 19.August 2017 anwesend sein.

10anosABN

IMG_0042_kleinDie Veranstaltung war sehr berührend, meine Kollegin Yolanda und ich kämpften abwechselnd mit den Tränen. Links Yolanda Rossmann im von HORIZONT3000 mitfinanzierten Kinderzimmer von Aguas Bravas Nicaragua.

Die meisten anwesenden Frauen sind selbst Überlebende von sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Es wurden Erfahrungen, Heilungsprozesse und persönliche Geschichten geteilt.

Zoraida Soza Sánchez, Frau der ersten Stunde der Organisation, skizziert die Arbeit der letzten Dekade, mit Höhen und Tiefen. Denn die Arbeit im machistischen Nicaragua, wo Gewalt gegen Frauen systemisch und strukturell tief verankert ist, ist alles andere als leicht. Die Frauen sprechen von sexuellem Missbrauch als Pandemie in Nicaragua, vor allem verbreitet innerhalb der Familien.

IMG_0037
Zoraida Soza Sánchez

Die Übersetzung und kollektive Anpassung des deutschen Leitfadens für Selbsthilfegruppen war ausschlaggebend für den Anstoß der Arbeit. Nachdem 2005 der Artikel „Worte von Überlebenden“ in der kritischen Zeitschrift Envio erschienen war, haben zwei betroffene Frauen gemeinsam mit Brigitte Hauschild Workshops über die Gründung und Begleitung von Selbsthilfegruppen vorbereitet und durchgeführt, was dazu führte,  dass Aguas Bravas Nicaragua entstand. Heute arbeitet bei ABN ein kleines Team von 8 Frauen. Und der Traum ist, dass es eines Tages den sexuellen Missbrauch nicht mehr gibt und das Aguas Bravas nicht mehr gebraucht wird. Aber bis dahin ist die Begleitung bei der Aufarbeitung der Traumata in Gruppen- und Individualtherapie, Körperarbeit und Tanz und die Aufklärung zur Prävention ein dringendes, ja auch politisches Anliegen.

Ein Meilenstein in der nationalen Gesetzgebung war das Gesetz 779 gegen Gewalt an Frauen, das 2012 verabschiedet wurde. Es ist jedoch durch mehrere Änderungen fast zahnlos geworden und wird außerdem noch immer nicht vollständig angewendet.  Bis heute gibt es großen Widerstand der männlichen Bevölkerung, des Establishments und von diversen Glaubensgemeinschaften.

Ein weiterer Erfolg ist das Abkommen zwischen Aguas Bravas und der Zentralamerikanischen Universität UCA, mit der sie ihr gemeinsames Interesse bekräftigen, die Qualität der Einzel- und Gruppentherapie für Menschen zu verbessern, die in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt haben. PsychologInnen werden nun in ihrer Ausbildung adäquatere Werkzeuge auf den Weg mitbekommen, um eine bessere Unterstützung Betroffener gewährleisten zu können. ABN wird weiterhin – jetzt eben vertraglich geregelt – im letzten Jahr des Psychologiestudiums den Studierenden Unterricht erteilen. Außerdem sollen Bedingungen geschaffen werden, dass auch in der Universität Betroffenen-Gruppen gebildet werden, die von Aguas Bravas begleitet werden.

prin-convenio-uca-aguas-bravas
16.Mai 2017. Quelle: Universidad Centroamericana

Insgesamt durchleben die betroffenen Frauen einen langwierigen, schmerzhaften und notwendigen Prozess, um sich ihrer Missbrauchsgeschichte zu stellen und sie zu konfrontieren:

 

  • Das Schweigen brechen und empathisch gehört werden
  • Die Aufarbeitung gemeinsam mit anderen Betroffenen und sich nicht mehr alleine, schmutzig und schuldig fühlen
  • Die Macht des Sexualstraftäters zerschlagen
  • Der Wechsel der Lebensqualität: vom Opfer des erlebten sexuellen Missbrauchs zur Überlebenden, die von ihre Menschen- und Bürgerrechten Gebrauch macht (sobre/supervivientes).

 

Die Theologin, Kinderbuchautorin und Journalistin María López Vigil war auch eingeladen. Sie, wie auch andere Frauen betonten, dass Männer endlich auch anfangen sollten, das Schweigen zu brechen und eine Arbeit wie die von Aguas Bravas beginnen.  Hier ein Interview mit poonal, wo María López über die Regierungspartei FSLN und Ungleichheit in Nicaraguas spricht. Tamara Luding vom Betroffenenrat, die mit dem Unabhängigen Beauftragtenrat für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland zusammenarbeitet, beglückwünschte Aguas Bravas zu der herausragenden Arbeit, und erzählte von ihrem Werdegang und ihrer Arbeit in Deutschland. 

Ein weiteres Highlight war der Auftritt der Frauen-Theatergruppe „Nuestra Cara“ Matagalpa, die uns mit ihrem spontanem Theater beschenkte. Mehrere Frauen teilten Situationen und Gefühle über ihren schmerzvollen Prozess, ihre Vergangenheit, ihre Fortschritte. Das Theaterkollektiv setzte die emotionalen Berichte in beeindruckende Theaterszenen um. Die Palette an Emotionen, die jede Szene hervorruft ist bunt und schier endlos. Das Publikum spielt dabei eine tragende Rolle, und in einer Art therapeutischen Katharsis werden wir gemeinsam Augenzeugen dieser Lebensgeschichten.

Hier ein Video zu einer spontanen Szene. Der Weg einer Betroffenen, vom absoluten Schmerz hin zu einer Art „Wiedergeburt“, mit Hilfe ihrer Therapeutin:

Das letzte Highlight: der Kurzfilm über Aguas Bravas von meinem Kollegen Klaus Brunner. Eine der Protagonistinnen ist übrigens meine heißgeliebte Heldin und Taxifahrerin Evelyn.

 

IMG_0046
In Erinnerung an jene, die ihr Geheimnis mit ins Grab genommen haben

Ein Gedanke zu “Die wilden Wasser bleiben auch nach einer Dekade wild

Hinterlasse einen Kommentar